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Als die Kälte übers Land hereinbrach…
Die Schneekatastrophe 1978/79: Extreme Schneefälle, eisige Kälte – alles begann im Norden Deutschlands – Ost wie West. Zwei Länder stürzen ins frostige Chaos. Ein Wintereinbruch, dessen monströsen Intensität die Menschen in der BRD und der DDR im 20. Jahrhundert bis dahin nicht erlebt hatten.
Dabei zeichnete sich diese Katastrophe zu Weihnachten 1978 noch gar nicht ab. Einmal mehr wurden über 10°C und Regenschauer zu den Festtagen vorhergesagt. Noch am Morgen des 28. Dezembers schien der Frühling näher als der Winter zu sein. Erst gegen Mittag dann kam der Kälteeinbruch – plötzlich, unerwartet und rasant. Die Temperaturen rauschten in den Keller, dichter Schneefall bis in die Täler und schwerer Sturm folgten. Der Strom fiel aus, Straßen waren nicht mehr passierbar, Orte und die Inseln an Nord- und Ostsee waren abgeschnitten vom Rest des Landes. Flensburg, Schleswig und Lübeck wurden von Hochwasser überflutet. Die Häfen waren teilweise zugefroren, ganz Norddeutschland kam zum Erliegen. Hubschrauber versorgten die Menschen tagelang aus der Luft. Der Katastrophenalarm wurde am 30. Dezember 1978 vielerorts ausgerufen.
In der DDR wurden Truppenverbände der Nationale Volksarmee (NVA) in die betroffenen Regionen geschickt. Im Norden der DDR räumten sie mit Hilfe von Panzern Straßen frei, versorgten die Menschen mit dem Notwendigsten, brachten Schwangere und Kranke in Krankenhäuser. Durch Schneeverwehungen aufgetürmter und verfestigter Schnee musste in weiten Landesteilen gar gesprengt werden, um Bahnstrecken, wie beispielsweise die zwischen Bergen und Sassnitz auf Rügen, wieder befahrbar zu machen. Neben den Häfen, die durch dicke Eisschichten unpassierbar wurden, traf es auch die Bauern der Region hart. Ohne Strom konnten sie die Tiere nicht adäquat versorgen. Kühe konnten nicht an die Melkmaschinen. Die Bauern ließen ganze Herden in ihrer Not in der Kälte verenden. Die Schreie der elendig sterbenden Tiere waren weithin übers Land zu hören.
Und auch die Tagebaue des Landes trafen Schnee und Frost. Die Kohle und die Gesteinsschichten darüber waren tief gefroren. Unter der Parole „Winterkampf“ waren auch hier die Panzer und Soldaten der NVA im Einsatz und sollten dafür sorgen, dass die Energieversorgung der DDR nicht komplett zusammenbricht. In Jänschwalde, Schwarze Pumpe und Meuro begann ein Kampf, der auch Menschenleben kosten sollte. Mit schwerem Gerät und Notstromaggregaten – teilweise eiligst aus der BRD heran geschafft – versuchten Bergleute, Soldaten und Volkspolizisten, die Kohle, die so dringend gebraucht wurde, abzubauen. Tagelanger Regen hatte die ohnehin schon sehr wasserhaltige und dadurch wetteranfällige Braunkohle im Schlamm begraben und durch die Eiseskälte gefrieren lassen. Die Förderbänder waren ebenfalls tief vereist und standen still – die Kohle, wenn sie denn in den Waggons verladen werden konnte, fror innerhalb weniger Minuten darin fest und ließ sich in den Kraftwerken kaum aus den Zügen schaffen. Und das, was an Werkzeugen vorhanden war, war entweder ungeeignet oder defekt. Was sonst verpönt war – der Blick gen Westen zum Klassenfeind – wurde zur Rettung in der Not. Werkzeuge, vor allem Bohrhämmer, wurden aus dem „Otto-Katalog“ bestellt und von der BRD nach Erlaubnis durch die DDR-Führung zügig geliefert – aber so zügig wie sie eingetroffen waren, waren sie auch wieder verschwunden. Geklaut, weil heiß begehrt. Und teilweise auch unter den Extremwitterungsbedingungen nicht gut einsetzbar.
Zeitweise herrschten bis zu -30°C dieser Tage. Tausende abkommandierte Soldaten schuften praktisch rund um die Uhr in den Tagebauen der Lausitz, die die „Stromzentrale“ der DDR und seiner Industrie war. Fuhren die Kraftwerke sonst um die 20.000 Megawatt, musste während dieser Katastrophe die Leistung auf 5.000 Megawatt gedrosselt werden – nur Lubmin lief an Neujahr 1979 noch unter Volllast, aber Millionen DDR-Bürger saßen ohne Strom in ihren Wohnungen, in denen die Heizungen kalt blieben. Die Bergbauingenieure suchten fieberhaft nach Lösungen und fanden diese in Schwarze Pumpe in Form eines alten Flugzeugtriebwerks, das auf einem LKW befestigt und als Gebläse zum Abtauen der Schüttvorrichtungen eingesetzt wurde. Neben dem körperlichen Einsatz der Bergleute, Soldaten und Polizisten setzte man in der DDR bei den auf Verschleiß fahrenden Werken seitjeher immer auch auf Improvisation und den eigenen Einfallsreichtum – was auch in diesem Fall die Rettung war und später auch in den anderen Tagebauen zum Einsatz kam.
Extremwinter wie den 1978/79 aber konnte der Arbeiter- und Bauern-Staat kaum verkraften. Haushalten war der DDR weder für Öl noch Kohle in großem Maße möglich, sodass auch die wenigen vorhandenen Lager schnell geleert waren und die in den Bergwerken eingesetzten Truppen unter größtem Zeitdruck und extremen Verhältnissen schuften mussten. 78 Stunden dauert der Schneesturm an, eine Woche hielt sich der Frost in der Lausitz. Energie rationierte der Staat den Bürgern noch bis weit in den Januar 1979 hinein, da die Schäden an den Kraftwerken, in den Tagebauen und Industrien enorm waren. 40.000 Ferkel und Kälber, dazu 90.000 Küken erfroren. Wie viele Menschen ihr Leben in diesem Winter in Eis und Schnee gelassen hatten, ist bis heute nicht geklärt. 18 Soldaten waren nach offiziellen Angaben im „Winterkampf“ dieses Jahres gestorben, die Dunkelziffer soll erheblich höher sein. Noch im Mai 1979 wurden die Leichen von Erfrorenen gefunden. Den wirtschaftlichen Gesamtschaden bezifferte die DDR am Ende auf acht Milliarden Mark – die Produktionsausfälle des Landes und das Aufbrauchen der wenigen Kohlevorräte, die das Land anhäufen konnte, werden nie ganz kompensiert in den kommenden Jahren.
Tage, die sich als Erinnerungen in den Köpfen eingebrannt haben.
Titelbild: Friedrich Gahlbeck, Braunkohlentagebau Espenhain, 5. Januar 1979, Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst – Zentralbild (Bild 183) © Bundesarchiv, Bild 183-U0105-033 / Gahlbeck, Friedrich / CC-BY-SA 3.0
Originale Bildunterschrift: ADN-ZB/Gahlbeck/5.1.79 / Bez. Leipzig: Einen großen Kraft- und Arbeitsaufwand erfordert das Rücken des Weichenpostens 47 im Kohleflöz des Tagebaus Espenhain, um den Baggern 555 und 544 den Weg zur Kohle freizumachen. Zum Wochenende wollen die Kumpel mit Unterstützung von Angehörigen der bewaffneten Organe die volle Versorung des Kraftwerkes Thierbach sichern. Pro Tag wollen sie 35.000 Tonnen Rohkohle liefern.