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Nachhaltigkeitsforscherin Victoria Luh im Interview
Viktoria Luh ist seit 2018 intensiv mit den unterschiedlichsten Gesichtspunkten des sozialen Wandels im Lausitzer Revier beschäftigt und begleitet lokale Akteure bei jenem herausfordernden, transformativen Prozess. Im Interview blicken wir mit ihr auf die Auswirkung des Strukturwandels auf junge Menschen…
Frau Luh, im Dezember des letzten Jahres hat das IASS, für das Sie tätig sind, einen Podcast veröffentlicht über die Thematik Strukturwandel mit Blick auf die nachwachsenden Generationen. Zumeist stehen im Fokus des Strukturwandels eher die Arbeitskräfte ab Mitte 40 aufwärts. Was hat Sie veranlasst, den Blick zu schwenken?
Der Podcast heißt „hör mal : lausitz“ (gibt’s bei Spotify, iTunes und co) und wir haben darin unterschiedliche Lausitzer*innen, mit denen wir als IASS zusammenarbeiten durften, mit ihren jeweiligen Ansichten und Einstellungen zu Wort kommen lassen. In der dritten Folge beschäftigen wir uns mit Kinder- und Jugendbeteiligung in der Lausitz und sprachen mit zwei Azubis der LEAG. Kinder- und Jugendbeteiligung ist deshalb wichtig, weil mit den Folgen der strukturpolitischen Entscheidungen in der Lausitz besonders jene Generationen umgehen müssen, die heute Kinder oder Jugendliche sind. Sie wollen in der Region bleiben, haben aber auf demokratischem Weg, z.B. über Wahlen, noch keinen Einfluss. Wo und wie sie beispielsweise in 20 Jahre zusammenleben oder arbeiten entscheidet sich jetzt. Deshalb ist Kinder- und Jugendbeteiligung auch gesetzlich verpflichtend. Das Bundesverfassungsgericht hat im März 2021 entschieden, dass Gesetze als verfassungswidrig erklärt werden können, wenn die Grundrechte nachfolgender Generationen nicht berücksichtigt werden. Sachsen und Brandenburg sind im Rahmen der Strukturentwicklung in der Lausitz gemäß dem InvGK verpflichtet, Kinder und Jugendliche zu beteiligen. Auch die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen fordert Beteiligung ein. Mein Kollege David Löw Beer und ich zeigen außerdem, dass Beteiligung die Motivation junger Menschen in der Region zu bleiben erhöht und ihre Ideen den Strukturwandel verbessern können. Kurz: ohne junge Menschen in der Region wird auch der Strukturwandel wenig Erfolg haben. Deshalb müssen wir alles daran setzen Kinder und Jugendliche dafür zu begeistern. Der Wunsch, dass die Lausitz attraktiv für junge Menschen ist und bleibt, wird nicht zuletzt auch von fast allen Menschen an uns herangetragen, mit denen wir in der Lausitz sprechen, seien sie alt oder jung, Bürgermeister*innen oder „einfache“ Bürger*innen.
Ein Umstand, mit dem sich viele Regionen in Deutschland beschäftigen müssen, ist der Fachkräftemangel. Auch die Lausitz verliert seit geraumer Zeit potenzielle Arbeitskräfte. Welche Schwerpunkte müssen in der Lausitz gesetzt werden, um beispielsweise junge Familien davon überzeugen zu können, in ihrer Heimat zu bleiben oder sich neu für die Lausitz zu entscheiden?
Ja, der Fachkräftemangel ist auch in der Lausitz bereits Realität. Deshalb muss nun schleunigst der Abwanderung gut ausgebildeter, junger Menschen entgegengewirkt werden. Dafür ist erst einmal eine Erkenntnis zentral: Wir können nicht wissen, was jungen Menschen wichtig ist, ohne sie zu fragen. Die Gefahr ist viel zu groß, an den Bedarfen, Themen und Wünschen vorbeizuplanen. Wir haben deshalb in einer Workshopreihe gemeinsam mit Auszubildenden der LEAG eine Umfrage entworfen, die auf den offenen Fragen und Themen der Jugendlichen beruht. Bei der Umfrage kam zum Beispiel heraus, dass das soziale Umfeld für über 90% der Auszubildenden ebenso wichtig ist wie die Verfügbarkeit guter Arbeitsplätze. Aber auch eine lebhafte Vereins-, Freizeit- und Kulturlandschaft ist der großen Mehrheit wichtig. 41% der Auszubildenden haben zudem angegeben, dass es ihnen für den Verbleib in der Region wichtig ist, politisch mitzumachen und die eigene Meinung sagen zu können. Dem Fachkräftemangel kann nur durch multidimensionale Maßnahmen entgegengewirkt werden. Gute Arbeitsplätze sind wichtig, aber eben nur ein Faktor unter vielen, damit sich junge Leute für die Lausitz entscheiden.
Wie können Sie es sich erklären, dass die Belange der Jugendlichen oder auch jungen Erwachsenen bisher in den vielen Bestrebungen rund um den Strukturwandel wesentlich weniger präsent sind? Verkennen die Entscheider, dass die prägende Generation für die Lausitz heute noch in Schule und Ausbildung sitzt, aber das Gelingen des Strukturwandels erheblich davon abhängen wird, dass die jungen Menschen sich einbinden?
Grundsätzlich muss man zunächst sagen, dass die Bedingungen für die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren insbesondere in Brandenburg, aber auch in Sachsen verbessert wurden. Beispielsweise hat die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) Sachsen in Kooperation mit der der Servicestelle Kinder- und Jugendbeteiligung Sachsen, dem sächsischen Sozialministerium und dem Kompetenzzentrum Kinder- und Jugendbeteiligung Brandenburg (KiJuBB) 2020 und 2021 Kinder- und Jugendkonferenzen im Rahmen der #MISSION2038 durchgeführt. Die Zukunftswerkstatt Lausitz hat Jugendliche über das fabmobil nach ihren Zukunftsvorstellungen gefragt. Auch einige Kommunen sind sehr aktiv in der Kinder- und Jugendbeteiligung. Nicht zu vergessen die Eigeninitiativen von Kindern und Jugendlichen sich am Strukturwandel zu beteiligen, wie es z.B. Jugend wandelt Strukturen macht. Es gibt also durchaus gute Vorbilder, doch bezogen auf die gesamte Lausitz fehlt es an effektiveren und unmittelbareren Beteiligungsstrukturen auf Landesebene. Die bisherigen Prozesse bieten zahlreiche Ideen, Anknüpfungspunkte und erfahrende Kooperationspartner, doch um Kinder- und Jugendbeteiligung von Modellprozessen zu einer breiten Verankerung zu führen, sind weitere Anstrengungen notwendig.
Fehlt da möglicherweise der Politik, Wirtschaft und Wissenschaft der Mut, die Kinder- und Enkelgenerationen in den Prozess aktiv miteinzubeziehen? Oder fehlt der Draht untereinander? Wieso tut man sich hierbei durchaus etwas schwer? Oder welche Ängste herrschen hier vor?
Ich habe weniger den Eindruck, dass der Mut fehlt, sondern vielmehr Ideen wie eine gute Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen im Strukturwandel aussehen kann. Prozesse mit Kindern und Jugendlichen erfordern Flexibilität, Zeit, Kreativität und vor allen Dingen Einlassen auf einen Prozess, bei dem das Resultat nicht unmittelbar absehbar ist. Außerdem haben politische Akteure teils die Erfahrung gemacht, dass nur wenige Teilnehmer*innen zu Beteiligungsformaten erscheinen und deuten das fälschlicherweise als politisches Desinteresse.
Das Problem besteht in erster Linie nicht an geringem Interesse von Seiten der Kinder- und Jugendlichen, sondern in einer wenig zielgerichteten und mangelhaften Information über den Strukturwandel und zu abstrakten und vordergründig spaßfreien Beteiligungsformaten. Beierle und Kolleg*innen deuten auch darauf hin, dass Beteiligungsformate häufig nur zu vorgegebenen Themen arbeiten und oft unklar bleibt was mit den Ergebnissen geschieht. Das langweilt Kinder und Jugendliche und hat häufig wenig mit ihren Lebensrealitäten zu tun. Deshalb braucht es konkrete Formate.
Wie kann man es schaffen, die Beteiligungsformate, die es ja in zahlreichen Ausprägungen gibt, einerseits auf diese Generation abzustimmen, aber eben auch dafür zu sorgen, dass diese sich in den Strukturwandelprozess dann auch aktiv einbinden wird?
Mein Kollege David Löw Beer und ich haben in Kooperation mit der DKJS, dem KiJuBB und einem Kinderrechtler beispielsweise drei Formate entwickelt, wie ein Jugendcheck für alle Strukturwandelprojekte aussehen könnte. Durch eine „junge Werkstatt“ oder einen „jungen Begleitausschuss“ könnten junge Menschen eigene inhaltliche Themen und Schwerpunkte setzen anknüpfend an den regionalen Begleitausschuss oder die Werkstätten. Auch die Entwicklung von Kriterien zur Bewertung von Strukturwandelprojekten aus Jugendperspektive oder die Priorisierung eingereichter Projektanträge durch Kinder- und Jugendliche flankierend zu den Werkstattsitzungen und dem regionalen Begleitausschuss könnten Beteiligungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche bieten. Näher nachlesen kann man das in unserem Policy Brief „Kinder- und Jugendbeteiligung im Lausitzer Strukturwandel“.
An welchem Punkt ist es sinnvoll, Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene abzuholen? Bereits während ihrer Schulzeit? Zur Berufswahl hin?
Politische Beteiligung ist eine wichtige Erfahrung in der demokratischen Sozialisierung von Menschen. Deshalb plädieren wir dafür, Kinder bereits möglichst früh die Möglichkeit zu geben sich politisch zu beteiligen. Natürlich müssen die gewählten Formate immer zu den Lebensrealitäten der jeweiligen Gruppen passen. Eine Orientierung kann es hier sein, beim Lokalen anzufangen und es dann auf das Regionale auszuweiten.
Wenn man mit Jugendlichen der Lausitz, aber auch im Mitteldeutschen Revier spricht, hört man inzwischen sehr viel gemeinwohlorientiertes Denken. Ob das Umwelt- und Naturschutz sind oder auch Themen wie Gesundheitsvorsorge und Pflege. Was glauben Sie, wie stellt sich diese Generation die Lausitz 2038 vor?
Da müssen wir die Kinder und Jugendlichen selbst fragen. Genau darum geht es uns: wir wollen weniger für oder über die Kinder und Jugendlichen sprechen, sondern wir sind überzeugt, dass sie mit Unterstützung und verantwortungsvoller Begleitung selbst in der Lage dazu sind, ihre Prioritäten zu entschlüsseln und zu kommunizieren. Aber sie haben Recht Beteiligungsformate der Deutschen Kinder und Jugendstiftung (DKJS) (z.B. #MISSION2038), des Kompetenzzentrums Kinder- und Jugendbeteiligung Brandenburg (KiJuBB) oder auch der Planathon mit dem Titel „Jugend gestaltet Strukturwandel“ zeigen eindrucksvoll, dass Kinder und Jugendliche sehr gemeinwohlorientiert denken. Zum Schluss ein Beispiel aus den Workshops mit den LEAG Azubis: Hier haben einige Azubis die Befürchtung geäußert, dass die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinandergeht. Kinder und Jugendliche denken in hohem Maße gemeinwohlorientiert und ihre Ideen, Beobachtungen und Eindrücke sollten wir im Strukturwandel nicht missen.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Luh.