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Von Glück und Zwang: Christine Herntier im Interview

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auf der linken Seite ist eine Frau abgebildet und auf der rechten Seite ist ein Zitat von ihr

Seit Januar 2014 ist Christine Herntier Bürgermeisterin der Stadt Spremberg. Als langjährig tätige Ökonomin und Kommunalpolitikerin erlebt Sie den Wandel in der Lausitz hautnah und ist nicht zuletzt durch ihr Engagement in der Lausitzrunde zu einem der Gesichter der Strukturentwicklung geworden.

Über Ihre persönliche Motivation und die teils anstrengende und selten ohne Kritik ablaufende Arbeit für einen erfolgreichen Strukturwandel gab Christine Herntier in einem Interview mit der SAS-Redaktion Auskunft.

Frau Herntier, als Bürgermeisterin der Stadt Spremberg sind Sie bereits seit sieben Jahren im Amt und werden sich vermutlich in diesen Jahren auch intensiv mit dem Thema Strukturwandel beschäftigt haben. Womit werden Sie in diesem Zusammenhang durch Ihre Bürgerinnen und Bürger am meisten konfrontiert?

Am meisten konfrontieren mich die BürgerInnen mit ihren Zweifeln am Gelingen des Strukturwandels.

Nun sind wir natürlich vornehmlich mit Themen des sächsischen Teils des Lausitzer und des Mitteldeutschen Reviers beschäftigt, allerdings endet der Strukturwandel selbstverständlich nicht an den Landesgrenzen. Wie werden Sie diesem Umstand gerecht und wie funktioniert das Miteinander über Brandenburg hinaus mit den Kolleginnen und Kollegen in der Lausitz?

Gerade die Lausitzrunde ist der Mahner dafür, dass die Strukturentwicklung abgestimmt zwischen den Ländern Brandenburg und Sachsen erfolgen muss. Leider ist es immer wieder ein Kampf, gerade bei Ländergrenzen überschreitenden Projekten. Das muss unbedingt besser werden. Also zwischen den Bürgermeistern funktioniert das schon gut, auf Landesebene kann es noch besser werden.

Ein Gremium, das sich intensiv mit dem Lausitzer Strukturwandelprozess beschäftigt, ist die von Ihnen bereits erwähnte Lausitzrunde. Sie sind hierin die Sprecherin der Brandenburger Kommunen. Welche Ziele haben Sie sich mit der Lausitzrunde gesetzt?

Die Lausitzrunde ist ein kommunales Bündnis für den Strukturwandel, welches einmalig in Deutschland ist. Wir als direkt vom Kohleausstieg betroffene Kommunen haben nicht nur Interesse an Strukturgeldern, für uns ist das Gelingen des Strukturwandels existenziell. Daher haben wir uns sozusagen verschworen, diese große Aufgabe gemeinsam zu bewältigen. Wir wollen, dass die Wertschöpfung und die Wertschöpfungsketten der Kohle- und Energieindustrie ersetzt werden durch neue, innovative Ansätze. Dafür haben wir unsere Clusterstrategie entwickelt (siehe www.lausitzrunde.com). Dort sind auch unsere Vorschläge, die Eingang in den Bericht der KWSB und in die Leitbilder gefunden haben, nachzulesen. Darüber hinaus wollen und müssen wir den demografischen Wandel stoppen und umkehren. Diesen Aspekt haben wir ebenfalls stark im Blick.

Wir hatten Mitte Juni 2021 die Gelegenheit, mit Bundeswirtschaftsminister Altmaier über den Strukturwandel zu sprechen. Im Speziellen sprachen wir darüber, dass seine Heimat, das Saarland, den Strukturwandel in einigen Teilen bereits erfolgreich bewältigt hat. Sein Credo war, dass alle voneinander lernen und sich miteinander austauschen sollten, um diese gewaltige Aufgabe im Schulterschluss meistern zu können. Schauen Sie aktiv in andere Landesteile, sprechen mit Akteuren auch dort oder haben sich vielleicht sogar vor Ort Eindrücke geholt?

Ja, wir sind im direkten Austausch mit den Kommunen im rheinischen und im mitteldeutschen Revier. Darüber hinaus habe ich persönlich auch an vielen internationalen Veranstaltungen teilgenommen. Mein Kollege Torsten Pötzsch, Oberbürgermeister der Stadt Weißwasser, ist besonders aktiv im Mayors Forum, in dem die europäischen Bürgermeister der Kohlereviere organisiert sind.

Spielen in Ihren Überlegungen und Planungen auch die Nachbarn aus Polen und Tschechien eine Rolle, um auch mit diesen den Strukturwandel über das bundesdeutsche Gebiet hinweg zu bewältigen? Oder sind in diesen beiden Ländern die Themen des Strukturwandels noch nicht so ausgeprägt wie in Deutschland?

Wir haben bereits 2016 in unserem Brief an die Kanzlerin Angela Merkel festgestellt, dass die Lausitz bestens geeignet ist, europäische Modellregion für den Strukturwandel zu werden. Die Länder haben das aufgegriffen, darauf sind wir sehr stolz. Auch die EU hat uns darauf hingewiesen, dass es notwendig ist, mehr grenzüberschreitende Projekte zu entwickeln. Aber auch das ist schwierig. Wir haben ja schon Probleme über die Landesgrenze hinaus Vorhaben zu entwickeln und umzusetzen.

Wenn man sich im Saarland mit Protagonisten des Bergbaus unterhält und diese nach ihren Erinnerungen fragt, wird man dort auch öfter damit konfrontiert, wie viele Familien unter Tage Familienmitglieder verloren haben. Welche Erinnerungen haben Sie aus der Zeit des Tagebaus in Ihrer Heimat? Welche Bilder tauchen vor Ihrem geistigen Auge als Erstes auf, wenn Sie Ihren Enkeln von damals erzählen?

Ich selbst und auch meine Familie habe nie im Tagebau gearbeitet. Trotzdem habe ich die Bilder vom Winter 1978/79 im Kopf wenn ich daran denke, wie schwer und auch wie gefährlich die Arbeit im Tagebau sein kann. Dieser Jahrhundertwinter war für die Bergbauarbeiter eine enorme Belastung.

In dem Buch „Wir machen das schon“ berichten Sie und Ihre Tochter, dass der Strukturwandel nicht nur bedeutet, Arbeitsplätze zu schaffen, sondern junge Menschen in der Region zu halten oder zurück zu gewinnen. Wie wollen Sie diesen Spagat bewältigen, denn in der Wahrnehmung vieler Menschen ist Strukturwandel nur darauf beschränkt, wegfallende Arbeitsplätze durch neue zu ersetzen.

Diese Wahrnehmung, dass Strukturwandel darauf beschränkt ist, neue Arbeitsplätze zu schaffen ist zu verkürzt. Besonders der demografische Wandel kann nur dadurch gestoppt und umgekehrt werden, wenn auch Kunst, Kultur, Bildung, Gesundheit, Kreativität einen deutlichen Schub bekommen. Dazu sind auch die Strukturmittel vorgesehen und entsprechend dieser Bedürfnisse wollen wir den Strukturwandel gestalten.

Das Thema Umweltschutz liegt Ihnen, das haben Sie ebenfalls betont, sehr am Herzen. Vor allem im Hinblick auf die Zukunft unserer Kinder und Enkel. Die Themen Wasser, Energie und Ernährung stehen hier stark im Fokus. Welche Rolle – wenn Sie es frei festlegen könnten – wird der Lausitz hier zuteilwerden?

Die Lausitz ist auch eine wunderschöne Naturlandschaft, welche jetzt wieder viel mehr wahrgenommen wird. Daher sind die Themen Ressourceneffizienz, Bioökonomie und sanfter Tourismus auch sehr wichtige Zukunftsthemen für die Lausitz. Das alles haben wir in unserer Clusterstrategie entwickelt. Vielfältige Wertschöpfung ist der Schlüssel für einen gelungenen Strukturwandel. Wir dürfen es nicht zulassen, wieder „benutzt“ zu werden. Denn so war es doch. Wir sollten nur die Kohle und Energie liefern. Wie wir hier leben war egal. Das darf sich nicht wiederholen.

Sie schildern in Ihrem Buchbeitrag auch, dass der jetzige Strukturwandel eine einmalige Chance für die Lausitz ist. Damit haben Sie auch bei der letzten Sitzung der Lausitzrunde geworben. Wie wollen Sie die Skepsis gegenüber den jetzt in Gang gesetzten Prozessen zum Strukturwandel begegnen, damit die Menschen die Angst davor verlieren und die Situation als Chance begreifen?

Angst ist immer ein sehr schlechter Ratgeber. Leider ist es sehr einfach, den Menschen Angst einzujagen. Und wenn man ehrlich ist, muss man sagen: Wir hatten keine Chance als Lausitz. Wir sind regelrecht ausgeblutet, vor allem die jungen Menschen haben uns verlassen. Erst jetzt, wo wir Aufmerksamkeit bekommen, und nicht nur wegen dem Geld, sondern auch, weil man gerade in der Lausitz etwas Neues machen kann, sind wir interessant.

Spremberg/Grodk ist wie kaum eine andere Stadt vom Kohleausstieg und von den strukturellen Defiziten der ganzen Lausitz betroffen. Jetzt können wir mit dem festen Willen, für uns, für die SprembergerInnen etwas zu verbessern, zum Beispiel das Thema Bildung ganz neu angehen. Die schweren Fehlentscheidungen in den vergangenen Jahrzehnten, Spremberg/Grodk derart stiefmütterlich bei Bildungseinrichtungen zu behandeln, können nur jetzt korrigiert werden. Unsere sehr gute Zusammenarbeit mit der BTU, aber auch mit anderen Universitäten versetzt uns in die Lage, qualifizierte Projekte zu erarbeiten. Das hat es noch nie gegeben in Spremberg/Grodk, darauf bin ich stolz. Auch die Bürgerbeteiligung hat einen Schub bekommen, den viele nie für möglich gehalten hätten. Das ist ein Vorteil für die Stadt, denn das bedeutet Vielfalt. Das lockt interessante Menschen an.

Wo genau sehen Sie die speziellen Chancen der Stadt Spremberg? Für was steht Sie jetzt und wird sie 2038 stehen?

Spremberg/Grodk wird ein ganz wichtiger Wirtschaftsstandort im Süden von Brandenburg aber mitten im Herzen der Lausitz bleiben. Aber wir werden nicht mehr nur „ausgebeutet“, nein, wir werden uns ganzheitlich entwickeln können. In die Zukunft schauen kann ich nicht, aber ich wünsche mir und ich arbeite darauf hin, dass wir insgesamt jünger werden, dass wir wachsen, dass wir erkennen, welche Chance in der jetzigen Situation steckt und diese auch mutig ergreifen. Dazu bedarf es nicht nur eines Strukturwandels, sondern auch eines Sinneswandels. Manchmal muss man eben auch ein bisschen zu seinem Glück gezwungen werden.

Vielen Dank für das Interview, Frau Herntier.